Die Geschichte mit dem Wasser auf der Welt NZZ am Sonntag 02/23

Zweitletztes Kapitel des 52-teiligen Fortsetzungsromans

Love is the water of life, sagte mal jemand Kluges. Und vielleicht ist die Liebe ja nicht nur so essenziell wie das Wasser auf der Welt, sondern auch genauso beständig? Immer da, in derselben Menge, aber in so unterschiedlichen Erscheinungsformen, dass man manchmal ganz vergisst, dass es immer einfach Wasser ist: das, was unseren Durst löscht. Das, was manchmal unverhofft über uns zusammenschwappt. Die Wolken – von oben ein bauschiges Luftschloss, von unten oft aber einfach nur der Sonne im Weg. Die eisige Unterlage, die uns zum Kniefall zwingt. Ganz wie die Liebe.

Weil das Leben kein Roman ist, an dessen Ende sich immer alle Kreise schliessen, erlag ich einigen Administrationskämpfen und verlor damit erst die Wohnung meines Vaters in Zürich und wenig später auch die in Kairo. Irgendwo zwischen Formularen und Telefonwarteschlaufen, Todesanzeigen und Übersetzungen löste sich mein Mapfgeist in Luft auf. Auch ging das eigentliche Leben nebenher normal weiter. Die Kinder waren verwundert und traurig über das Fehlen von «Gaddu». Aber sie stellten auch viele süsse Fragen, die einem das Herz wärmten. Zum Beispiel, ob am Sarg ein Schloss sei, damit wir nächstes Mal Spaghetti mitbringen könnten? Ich fragte daraufhin meine Tochter, ob sie eigentlich wisse, wie sehr ich sie liebe. Und sie antwortete «Ja! Sicher sogar hundert Meter, oder?» Und ich nickte. Weil, wenn für sie hundert Meter die ultimative Liebe bedeuten, dann liebe ich sie na so gern hundert Meter. Und Sie? In welcher Einheit messen Sie die Liebe? Ist es ein Schatz nach jedem Komma? Handgeschriebene Kärtchen? Pünktlichkeit? Oder doch eher körperliche Zuneigung? Mithilfe im Haushalt, gerecht aufgeteilte Finanzen und Skijacken im Partnerlook? Oder 51 Mal jemanden zum Arzt oder retour fahren, obwohl man längst keine Lust mehr hat?

Die Frage ist vielleicht eine der wichtigsten. Eine, die man idealerweise vor dem Heiraten und sonst wenigstens vor dem Sterben einmal bespricht, um nicht so zu enden wie dieses Ehepaar, das gemäss der urbanen Legende (wobei es vielleicht eher ein rurales Gerücht ist) ein Leben lang sein Brot gleich ass: Er opferte sich, den Gupf zu essen, und überliess ihr die erste Scheibe. Immer im Glauben, er tue seiner Frau damit einen Gefallen, ohne je zu erfahren, dass sie seinen Teil am liebsten gehabt hätte. Und sie, als er stirbt, tröstet sich damit, dass sie nun wenigstens immer den Ahoiel für sich haben kann, und wird ganz betrübt, als sie von ihren Kindern erfährt, warum sie ihn bislang nie bekommen hatte.

Dabei es ist doch das, was man seinen Liebsten geben möchte: All die Liebe, die man für sie hegt. Dafür muss man es gleich machen wie mit den Fremdsprachen: Man muss den Kreis der eigenen Sprache verlassen und in den des Gegenübers treten – sonst liebt man dümmstenfalls aneinander vorbei. Es nützt nichts, wenn ich am Ende eines jeden Gesprächs Lieb di sage oder das Staffelfinale aufspare und kein Jubiläum vergesse. Wann die andere Person tatsächlich «Ich liebe dich» hört, das muss ich wissen. Sodass wir uns anpassen können oder uns zumindest der Übersetzungen bewusst sind.

Die Wochen vergingen und einmal waren wir bei Freunden zum Abendessen auf deren Balkon. Die Sonne hing tief und orange im Himmel, später färbte sie ihn leuchtend rosa. Die Kinder kneteten, wir redeten, es war zum ersten Mal alles wieder ruhig in mir drin. Daheim brachten wir die müden Mädchen rasch ins Bett. Ich ging in der dunklen Wohnung ins Bad, wo es plötzlich unerwartet aufs Dachfenster trommelte. Regen. Richtig harter, schwerer Regen. Wie an dem Abend, an dem ich vom Krankenhaus nachhause gefahren war. Wie an der Beerdigung. Und wie an dem Tag, als der Lastwagen kam, um die zusammengepferchten Wohnungsinhalte abzutransportieren. Weder meine Wetter-App noch ich schienen es für möglich gehalten zu haben, dass es nach diesem wolkenlosen Abendhimmel noch regnen würde. Das Lied «You are the Rain that Falls at Night» fiel mir ein. Ich ging ins Wohnzimmer und öffnete das grosse Fenster ins Quartier. Auf dem Telefon spielte ich das Lied ab. Statt Tränen kam mir ein Gedanke: Wäre es nicht recht typisch, wenn Mohamed sich für nach dem Tod die Option «Weiterexistieren in Form von unerwartetem Regen» ausgesucht hätte? Nicht nur, weil love the water of life ist. Sondern schon auch, weil es den Beregneten das Gefühl geben würde, auch ein kleines bisschen selbst Schuld zu sein, dass man nass wurde. Hätte man nämlich immer an den Regen gedacht, wäre man jetzt nämlich auch nicht überrascht, nass oder beides. Ich schrieb es Maja und sie antwortete mit einem Kuss und: «Aber ganz sicher!»

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