Eat, Pay, Love – Wie Sie (vielleicht) Ihre Katze wiederfinden
NZZ am Sonntag 11/23

Ein knappes Jahr lang lebten wir als Familie mit zwei knuffigen Kätzchen unter einem Dach. Bis die Statistik uns heimsuchte.

An keinem Tag war ich weniger gern Mutter, als an jenem, als ich meiner Familie sagen musste, dass unser kleiner Kater überfahren worden war. Die Kinder schluchzten und weinten beim Essen in ihre Teller (das eine ein paar Stunden, das andere noch heute). Auf den beigelegten Taschentüchern, die eine Woche später vom Tierkrematorium der pfotenverzierten Urne beigelegt waren, stand: «Jede geweinte Träne ist eine Liebeserklärung.» Aber trotz Ritualen und schönen Sprüchen wollte der Schmerz nicht recht verheilen. In seiner lautesten Form gipfelte er in einem dreistimmigen Schreikonzert, als sich das eine Kind mittels eines stumpfen Rüstmessers zum Kater ins Jenseits gesellen wollte und das andere panisch schrie, weil es nicht wusste, dass ich das, wenn auch ebenfalls brüllend, ganz sicher zu verhindern wüsste.

Wir fokussierten uns auf die verbleibende Katze und hielten uns mit auf Instagram gehorteten Sprüchen mental über Wasser: «Kummer ist die Menge der Liebe, die du noch zu geben gehabt hättest.» Wir waren mit dem Runterfahren unseres Familienpulses noch überhaupt nicht fertig, als wenige Wochen später die zweite Katze verschwand. Von wegen Gott. Wie konnte das jetzt sein? Zwei Tage lang redeten wir uns ein, dass unsere «Abenteurerin» bestimmt einfach nur den Spätherbst geniesse und durch die Wälder streife. Aber wir wussten: Mit ihrem Einzug hatte sich diese Katze der Sportlichkeit unserer Familie angepasst. Als sie das erste Mal durch die Katzenklappe nach draussen wollte, klemmte sie fünf Minuten ungelenk darin fest und ruderte mit den Hinterbeinen, als wüsste sie nicht mal, welches Tier sie eigentlich sein möchte. Wir waren also bereits auf das Schlimmste gefasst.

Ohne es auszusprechen war uns jedoch klar: This shit can‘t be happening. Es ging hier nicht einfach nur um eine weitere Katze, sondern um die Aufrechterhaltung eines Narrativs: Manchmal ist das Leben unfair, ja. Vielleicht ist es unerwartet kürzer als wir es gern hätten. Und nur weil einem etwas Schlimmes passiert, bleibt man vom nächsten Schlimmen nicht automatisch verschont, auch wenn das «mega gemein und unfair» ist. Aber – und für dieses Aber würde Team Eltern in den nächsten Tagen seinen letzten Funken Menschenverstand hergeben – manchmal kommt auch alles wieder gut. Und dass dem so wäre, das war nun unsere Aufgabe.

Wir schalteten bei der Schweizerischen Tiermeldezentrale eine Anzeige. Wir druckten Plakate und beklebten Baumstämme, Anschlagbretter und Ladenscheiben. Wir streiften durch die Wälder und machten pspspss. Tag und Nacht und vor allem: vergeblich. Gemäss meiner App lief ich noch nie so viele Schritte pro Tag in Folge. Um nicht allzu schlank aus dieser Sache rauszukommen, ass ich auf meinen Streifzügen zur Beruhigung abwechselnd hampfelweise Maltesers und Sandwichreste direkt aus der Jackentasche. Nach ein paar Tagen im Wald verlor ich fast den Verstand. Was machte ich überhaupt? Warum sollte die Katze genau hier sein, wo ich jetzt war? Und wie halten andere Menschen das Leben aus, die ihren Kindern viel grausamere Nachrichten überbringen müssen? Stabreime zum Thema Unheil formten sich in meinem Kopf – Klima, Krieg und kleine Katzen vor grossen Karren – und mischten sich mit meinem langsam erschlafften bsbsbss. Durfte ich überhaupt Fleisch im Brot haben und gleichzeitig weinend eine Katze suchen? Und wie lerne ich, den Dingen ihren Lauf zu lassen? Meine Kinder sollen den Hindernissen des Lebens nicht so begegnen wie Lucy der Katzenklappe, weil ich sie vor allem verschone. Aber warum war es der Katze eigentlich nicht schön genug bei uns?

Abends im Bett verglichen wir vor dem Einschlafen unsere Routen und Resultate. Einmal stolperte ich im Traum über die Katze, lachte und rief ihren Namen. Wie sehr kann es einen umtreiben? Als Frau, die ich früher belächelt hätte, setzte ich mich schwermütig in die dunkle Küche. Tag 5 war im Anbruch. Ich scrollte durch Instagram und mir fiel jemand ein, der seine Katze dank der Hinweise eines Mediums wiedergefunden hatte. Am nächsten Morgen gestand ich meinem Mann, dass ich einer Frau eine Anfrage und einer anderen bereits 180 Franken geschickt hätte, damit sie mit Lucy in Kontakt trete, um «zu spüren, ob und wo sie ist». «Super», sagte er froh. «Das wollte ich gestern auch, aber mir antwortete niemand.» Wenn das alles für nichts war, so dann wenigstens für das Wissen, dass ich absolut richtig geheiratet habe.

Jetzt hatten wir also mehrere Anlaufstellen in unseren glühenden Telefonen. Jemand spürte, dass «die Katze einen Freund gefunden habe und mit diesem zusammen am Wasser mit Schmetterlingen spiele». Was für ein Quark, dachte ich. Aber kein anderer Satz liess die Gesichter meiner Kinder derart aufhellen. «Oh, das passt zu ihr, so herzig!» riefen sie und gingen spielen. Jemand anderes spürte, dass es der Katze bei uns daheim zu laut gewesen sei. Dann war dieser eine Blick meiner Katze tatsächlich so vorwurfsvoll gemeint, wie er sich angefühlt hatte? Dazu schickte mir die Frau einen eingezeichneten Radius um unser Haus und darin einen markierten Bereich, den ich dann wiederholt abstapfte. Von ihr bekam ich auch eine detaillierte Anleitung für «Heimwegschleppen». Dafür entfernt man sich einen guten Kilometer in alle vier Himmelsrichtungen vom Entlaufort und spaziert dann zum Haus zurück und träufelt aus einer vorbereiteten Petflasche eine Spur aus selbstgemachtem Fischwasser (= Fisch + Wasser + Stabmixer). Um dieses Verfahren «noch effektiver» zu machen, binde man sich einen oft getragenen Gegenstand an eine Schnur und ziehe diesen in der anderen Hand hinter sich her. (Falls Sie trotz dieser Geschichte das Gefühl haben, Sie möchten sich eine Katze zulegen: geben Sie ihr doch einen eindeutigen Katzennamen wie Tigi oder Coco. Weil wenn ein zwei Meter grosser Mann wie meiner mit ernstem Gesicht durch das Unterholz streift, Fischwasser verspritzt und dabei eine Socke hinter sich herzieht, wird es nicht weniger seltsam, wenn er dabei noch Mia oder Lucy ruft.)

Wir schliefen für eine Nacht auswärts. Für den Fall, dass die Katze just in dieser Nacht nachhause kommen sollte, hatte mein Mann kurzerhand einen Bewegungsmelder bestellt, der ihn benachrichtigen sollte, sobald sich in der Wohnung was regte, so dass daraufhin unsere Nachbarn bitte per gelegtem Schlüssel kurz nach Lucy schauen könnten. Zusätzlich ziert seit diesem Wochenende ein per App Trockenfutter-Snacks speiender Automat unser Wohnzimmer. Aber auch diese Investitionen brachten die Katze nicht heim.

Etwa 1400 Franken nach dem ersten Katzenverlust und neun Tage nach dem Verschwinden der zweiten gab ich auf. In Form einer textlastigen Instagram Story resümierte ich: Vielleicht müssten meine Kinder aus dieser Geschichte eher lernen, das Schöne in der Welt zu sehen, auch wenn sie manchmal so offensichtlich unfair ist statt mir dabei zuzusehen, wie ich tagelang einer Katze im Wald hinterherjage. Vielleicht war es wichtiger, die Perspektive zu wechseln zu können. Einzusehen, dass es auch Schlimmeres geben kann als verschwundene Katzen (und Eltern, deren Turnschuhe auch am Besuchsmorgen noch nach Fischwasser riechen). Das Leben lohnt sich trotzdem. Und während ich schlaflos durch die Reaktionen scrollte, stolperte Lucy durchs Törchen in unsere Wohnung. Einfach so. Um 3:11 morgens, an Tag 10. Sie sah aus wie immer. Gefüttert und gebürstet. Auf mein wiederholtes Fragen antwortete sie nicht. Kurz war ich versucht, alle Medien nochmals zu fragen, wo sie jetzt denn das Tier spüren würden, hm? Zehn Tage im Wald war diese Katze definitiv nicht. Aber man will sich das mit dem Karma auch nicht verscherzen. Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich sie brauchen würde. Ich verschickte erleichterte Beweisfotos in meine Chats, mein Mann bestellte ein GPS Halsband und beide streichelten wir mit der jeweils freien Hand die schnurrende Katze zwischen uns.