Schulschwimmen: eine Lektion (fürs Leben)
NZZ am Sonntag 09/23
(Nirgends im folgenden Artikel steht, dass früh schwimmen können etwas Schlechtes ist. Viel eher steht hier gleich, dass wir alle weniger zu tun hätten, wenn wir nicht alle so übereifrig fürschi machen wollten mit allem.)
Falls Sie denken, mental load habe nichts mit Ihnen zu tun, quick check: Ich meine mit Mental Load dieses Gefühl, dass man anstelle eines kühlen Kopfs einen glühenden Laptop mit unzähligen offenen Tabs auf dem Hals trägt, die Sicht auf den Desktop völlig zugestellt (dabei läge dort der eine Screenshot, auf dem die Handhabung für brennende Toaster stünde), während von einer nicht auffindbaren Quelle ein Song abgespielt wird (nichts von Simon & Garfunkel, eher Ice von Massianello). Und auf dem Balkon ein brennender Toaster. Oder anderswo umschrieben: Die Last der Verantwortung für Haushalt und Familie, die Beziehungspflege sowie das Auffangen persönlicher Bedürfnisse und Befindlichkeiten.
Sie mögen sich fragen, ob denn nicht alle Menschen gleichermassen die Last ihres zuweilen fast übervollen Alltags mit sich tragen? Schon, ja. Die Sache mit den Müttern und Vätern ist einfach die, dass sie per definitionem mehr als eine Person sind. Entsprechend muss sich da um mehrere Alltage gekümmert werden und deshalb lässt sich anhand von ihnen am allerbesten aufzeigen, worum es geht.
Da sind – nebst den eigenen – die sichtbarsten To Dos: Zähne zu putzen. Zecken zu impfen. Schwimmsäcke zu packen. Frisuren zu flechten. An all das schon gedacht zu haben, bevor die Zecke in der Haut steckt: Das ist die schon nicht mehr ganz so sichtbare Über-Aufgabe. Und zwischen die Zeilen drängt sich dann noch die Komponente, die so unsichtbar wie unberechenbar ist und die selbst reduzierteste Pendenzen-Liste aufs doppelte Volumen anschwellen lässt: die Gefühlswelten. (Dieser geballten Last an Pendenzen könnten wir entgegenkommen mit einer weniger ambitionierten Alltagsgestaltung.)
So viele Extrastunden an Geduld es mir abverlangte, so viel hat es mich auch schon gelehrt: Das obligatorische Schulschwimmen. Einerseits ist es mein Lieblingsexempel, um aufzuzeigen, dass pro sichtbarem Punkt auf jeder To Do Liste noch exponentiell viele unsichtbare Leerzeilen dazukommen. Weil, bitte wöchentlich einpacken (idealerweise sauber, passend und frisch):
- Badehose und -kappe
- Kamm und Haargummi
- Tuch
Drei Punkte nur – aber die dazugehörigen Zwischenzeilen reichen für Prosa. In der allerersten Schulwoche seines Lebens vergass ich, meinem Kind das Schwimmzeug mitzugeben. Es kam heim, betrübt und klagend, es hätte in fremden Badesachen schwimmen müssen. Postwendend bestellte ich ein grosses Pinboard, auf welches ich mit schlechtem Gewissen im Nacken alles hinpinnte, um fortan den Überblick über unser aller Alltage zu bewahren. Trotz meines adminstrativen Efforts hatte das Kind wochenlang Bauchweh am Vorabend und Selbstzweifel jeden Mittag nach der Schwimmstunde. Ich versprach, mir das Elend am Besuchstag anschauen zu kommen. Fälschlicherweise hatte ich gedacht, im obligatorischen Schwimmunterricht in der ersten Klasse lerne man schwimmen. Aber nein. Natürlich konnten fast alle Kinder schon überdurchschnittlich gut schwimmen, weil fast alle Eltern mit ihren Kindern schon zum Schwimmen gegangen waren, damit sie schon schwimmen können, bevor sie schwimmen lernen.
Ich hätte meiner Tochter das Schwimmen doch auch einfach selbst beibringen können, denken Sie? Ja, hätte ich – wenn unsere Dynamik nicht diese wäre, dass sie die Art, wie ich ihr Dinge beibringe, absolut unerträglich findet.
Nun. Laut rufend kamen die Kinder in die Halle, manche sprangen kopfüber ins Wasser, die bunten Badekappen tanzten auf der Wasseroberfläche. Mein Kind glitt zögerlich ins Nass und watete, die blassen Arme ergeben wie beim Hände hoch, zu den tanzenden Badekappen. «Ich cha nüt, Mama», mimte es mit dem Mund. Meine Black Box mit allen wasserdicht verschlossenen Gefühlen erweichte unter der Schwere der Erinnerung an meine eigenen Sportvorführungen und mir schossen Tränen in die Augen. Ach, mein süssestes Kind! Das Leben wird trotzdem schön.
Sie aber weinte 35 lange Minuten leise ins Wasser und krallte sich am Beckenrand fest. Ich verliess die sitzende Reihe der Eltern und kauerte zu ihr. «Chum eifach use. Es macht nüt», flüsterte ich und erklärte, dass sich sowieso alle vor allem für ihr eigenes Kind interessieren. Wegen der Luftfeuchtigkeit inzwischen mit der Frisur eines Schafs fragte ich mich, was ich bis hierhin anders hätte machen müssen, dass nicht ausgerechnet ich von allen anwesenden 18 Eltern die wäre, die hier nun kniet und mit einer Hand das zu knappe Shirt hinten in die Hose zu murggsen versucht, damit ich nebst meinem allfälligen pädagogischen Versagen nicht noch (unnötig) mehr offenbarte. Ich dachte an mein Weight Watcher Abo und wie es jeden Monat 50 Franken frisst, ohne dass ich die App auch nur ein einziges Mal geöffnet habe seit Weihnachten. Das Geld hätte ich für Förderkurse ausgeben können. Oder gleich - Schoggi für den Heimweg. Hätte, könnte, sollte. Da glüht er wieder, der Laptop überm Hals.
Mit dem schweren Kopf meines Kindes an der Schulter, kündigte ich noch im Bus heim das Abnehm-Abo und buchte – swimsalabim! – einen Privatkurs, neun Sonntage lang. Das sind mehr als zwei Monate kein Wochenende, von dem man entweder behaupten könnte, man hätte einfach mal gar nichts vor oder aber als ganze Familie die Möglichkeit, Freunde zu treffen, für die unter der Woche die Zeit nicht reicht wegen allem anderen.
Ich war neun Mal wütend. Hätten alle anderen nicht schon vor dem obligatorischen Unterricht alles gelernt, wären wir gar nicht so viel hinterher mit allem. Das bedeutet, wenn wir alle weniger machen würden, könnten wir alle weniger machen. Und das käme dem Gstürm in der Agenda doch sehr entgegen. Oder generell dem Leben. Weil, was bringt es denn, wenn wir alle mit allem schon früher fertig sind, weil wir es schon können? Machen wir dann wirklich Pause und was Entspannendes – oder einfach schon wieder was anderes, vorbereitend auf wieder was anderes? Weil dann nützt es doch einfach überhaupt gar nichts, dass wir erste waren?
Man könnte jetzt denken, das sei einfach meine Wahrnehmung, weils bei uns mit dem Schwimmen haperte. Aber diese Pressantheit in allem, sie scheint mir trotz aller handgeletterten Entschleunigungsmantras allgegenwärtig. Mehrere Personen beklagten sich am ersten Elternabend, dass ihre Kinder sich langweilen würden nach drei Wochen in der ersten Klasse, weil es mit den Buchstaben so langsam voranginge. Wo müsst ihr denn hin? dachte ich. Dann haben sie halt die Ufzgi in 20 Sekunden gemacht. Isch doch geil. Was sollen die denn? Mit 19 schon die ETH fertighaben, damit sie als jüngste Architektin schon früher an einem Herzinfarkt sterben können? Ich chume gar nöd drus. Wir täten doch gut daran, einfach mal nur auf dem Rücken zu liegen und in den Himmel zu schauen, ein gutes Lied zu hören, die eigene Fusssohle mit einem Grashalm zu kitzeln oder mit einer Katze zu spielen. Aber was weiss ich schon. Ich kann noch nicht mal einen Köpfler.