Heile Heile Säge und Happy New Year

Apple Notes 01/2024

Einen Tag vor Silvester waren wir auf der Bodmi, dem kleinen Hang in Grindelwald, der den Menschen zum Ski- und Schlittenfahren vorbehalten ist, die erst halb wissen, wie es geht (und weil wir in allen körperlichen Dingen immer etwas langsamer sind als der Durchschnitt, brauchen wir noch immer nur selten mehr als einen Lernhang für eigentlich egal, was wir tun). Die Kinder probierten zum ersten Mal aus, wie es ist, ohne uns zu schlitteln. Oben stand der Mann für die Starthilfe, unten ich, um die Kinder zu filmen und in der richtigen Reihenfolge wieder aufs Förderband zu moderieren. Irgendwann lief es von allein und zu My Church von Maren Morris bestellte Muttern Kafi Baileys für uns beide, es war ja schon fast Silvester (wie das Lied heisst, ist übrigens kein Stilmittel, der diesen digitalen Tagebucheintrag künstlich optimieren soll und ich kenne natürlich auch nicht alle Lieder, die irgendwo laufen, aber ich hatte Zeit beim Anstehen und shazamte es).

Mit dem lauwarmen Getränk in der Hand setzte ich mich unterhalb der Piste auf eine dafür gemachte Holztribüne etwas abseits, die Sonne schien mir ins Gesicht und in diesem halbgaren Zustand hörte ich den Menschen um mich herum zu. Dabei vernahm ich, wie einer einem anderen erzählte, dass die eine Person, die seit Längerem oben rechts am Pistenrand kauere, rückenvoran in einen Pfosten gedonnert sei. Der andere fragte, wie man nach so wenigen Metern denn überhaupt schon so viel Fahrt aufgenommen haben könne, um sich zu verletzen? Und ich dachte: Freiwillig wird die Person ja nicht da oben im Schnee sitzen bleiben, immer Gefahr laufend, dass jemand anderes gleich in sie reinschlittelt. Aber Hauptsache erstmal den Schmerz des anderen in Frage stellen…

Eine Familie aus Südamerika lobte ihre Kleine fürs nicht aus dem Schlitten purzeln und von der Skibar hörte man Maren Morris leise noch ihr Album zu Ende singen. Die Pisten waren bunt gepunktet von all den Menschen, die an diesem Nachmittag alle dieselbe Idee hatten. Ich kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, was weiter oben passiert sein könnte. Eine Skilehrerin stand nun telefonierend neben der noch immer im Schnee knienden Person. Was sie redeten, war nicht hörbar. Jemand erzählte, wie unfassbar viele Leute es heute im Dorf seien und dass sie zum Glück schon vor Wochen für morgen reserviert hätten. Jetzt nutzte eine zweite Skilehrerin ihre Skier wie grosse Schlittschuhe und glitt emsig an uns vorbei, links, rechts und hörbar atmend, Anlauf holend für in diesem Stil bergaufwärts. «When the sun shines onto this kind of snow, it becomes very difficult to use it», erklärte derweil wieder einer einem anderen und ich zählte, ob wir eigentlich die einzigen hier waren, die keinen Helm, sondern nur dicke Mützen anhatten.

Wie einzelne Regentropfen an einer Fensterscheibe sich abwärtskullernd zu einem Rinnsal zusammenschliessen, verwoben sich in den folgenden Momenten immer mehr Sätze zum gleichen Thema und formten irgendwann das zumindest auf dieser Seite des Förderbands existierende Bewusstsein dafür, dass da oben wohl etwas Schlimmes passiert sein muss. Die Schlittelnden wurden nun gebeten, nur noch die linke Seite der Piste zu benutzen, jemand brachte der starr im Schnee knienden Person eine goldenen Rettungsdecke und wenig später rief jemand laut über die kleine Piste: «Finish for today, finish sorry!». Die Skischulen auf der anderen Seite merkten davon nichts, der Unterricht war bezahlt, die Spätnachmittage gingen dort für alle so weiter, wie sie angefangen hatten. Jeder war in seiner Welt und tat weiter, womit er eben gerade beschäftigt war. Auf unserer Seite musste man minime Veränderungen des angedachten Programms in Kauf nehmen. Nun, da kein Schlitteln mehr möglich war, gingen manche was trinken, andere packten ihre Sachen zusammen, wieder andere schauten neugierig zur Unfallstelle und wieder andere regten sich darüber auf, dass ja nun niemandem geholfen sei, wenn man neugierig zur Unfallstelle schaue. Zwei Frauen, die gerade erst angekommen waren, schossen Fotos voneinander. Arme in die Luft, ein Bein angezogen und Wörter mit stellenweise langem «i» rufend, für das ideale Lächeln. Haha, ew, nope, again! Die kniende Person würde maximal eine unkenntliche, goldene Reflektion auf den späteren Erinnerungsfotos dieser Frauen sein, sie sahen sie nicht und waren einfach nur froh um den menschenleeren Fotohintergrund.

Bis der Helikopter kam und spätestens sein Rotorengeräusch dann allen dabei half zu merken, dass etwas passiert sein muss, wurde posiert, gelacht, getrunken, Kinder fotografiert und in die Sonne geblinzelt. Was halt so getan werden muss, während wenige Meter von einem entfernt jemand nicht weiss, ob heut Abend alles wieder okay ist oder grad ein neuer Lebensabschnitt beginnt, der mit dem vorhergehenden nichts mehr zu tun hat. Zwei Leute filmten den Helikopter, wie er über unsere Köpfe flog. «Wow Dani, lue, du hesch doch scho immer mau wöue en Heli vo Nächem gseh!», rief ein sichtlich aufgeregter Vater, der seinen Sohn vom Schlitten zu dem Pistenabschnitt neben dem Restaurant zog, wo der Helikopter landete. Ich hoffte, dass die Person oben im Schnee so wenig von dem hörte, was hier geredet wurde, wie wir von ihr hörten. Mich beelendete die Vorstellung, dass ich — oder noch schlimmer mein Kind — da läge und wir nicht wüssten, ob wir uns je wieder würden bewegen können und uns dabei anhören müssten, wie andere sich Getränke bestellen, unseren Schmerz in Frage stellen, sich über den Helikopter freuen, sich gegenseitig auf die Schulter klopfen für termingerecht reservierte Tische und uns einfach ausblenden, egal wie sehr die Rettungsdecke reflektiert.

Andererseits: Was sollte man auch tun? Jetzt und hier, ganz konkret. Hingehen und fragen? Vielleicht. So oft weiss ich nicht was tun. Ich habe zwei Freundinnen, deren Bewegung ist immer hin. Dahin, wo es jemanden brauchen könnte. Zum Obdachlosen mit der offenen Wunde. Zu der Mutter, die ihr Kind zu harsch anfasst an der Bushaltestelle. Hin zu dem schlafenden Mann im Tram, um zu fragen, wo er rausmuss. Ihr innerer Aktionspfeil geht dahin, wo etwas passiert und sie eingreifen oder vielleicht helfen können. Ich wünschte, ich wäre auch so. Mein Impuls ist immer anders. Das ist unangenehm und ein bisschen peinlich. Aber ich möchte immer lieber weg und überlegen. Und bevor ich etwas tue, muss ich immer erstmal sitzen und erstarrt etwas Abwegiges überlegen. Zum Beispiel, ob die Welt auch hätte anders passiert sein können und ob es nicht eigentlich sehr schade ist, dass es sich nie so ergab, dass Menschen immer ein Lied zusammen anstimmen, um Ruhe in eine Situation zu bringen? Das wäre vielleicht schön. Einfach um zu zeigen: Wir sehen, dass etwas passiert ist. Wir nehmen Anteil. Wir saufen und feiern nicht einfach weiter, weil wir wissen: Alles hätte immer genauso gut auch uns passiert sein können. Es bräuchte eine Tonfolge, die sagt: Tut uns Leid, dass es grad dich trifft. Etwas Universales wie ein SOS, aber mit der Wirkung, wie es Heile Heile Säge für ein Kind bedeutet. Wir könnten hier trotzdem einfach weiter unwissend sitzen, genau so nichts tun, aber summend ein Zeichen setzen. Es würde nichts kosten. Wir sähen auf Fotos noch immer toll aus. Es täte uns nicht weh. Es wär doch vielleicht eine Idee? Die ganzen Menschen auf der Piste halten inne und wir alle summten dieselbe Melodie. Wie eine Schweigeminute, aber mit Ton. Weil noch alles möglich ist. Während ich dumm da sitze und denke, brechen wir auf und spazieren nach Hause. Eine Notärztin und zwei Leute mit einem Rettungsschlitten sind jetzt bei der nicht mehr knienden, sondern nun warm eingepackten und liegenden Person. Von aussen bin ich wie alle anderen. Unbeteiligt, ihres Weges gehend.

Abends im Bett, als ich Fotos aussortierte, schaute ich die drei Videos vom Nachmittag nochmals an und löschte zwei davon. Und am liebsten hätte ich auch das dritte gelöscht, denn auf allen war im Hintergrund die kniende Person im Schnee. Ich hatte sie mitten in den Menschen selber nicht gesehen, als ich verliebt meine Mädchen filmte, wie sie schlitteln. Am nächsten Morgen googelte ich, ob ich etwas darüber finde. Aber da war nichts. Nicht mal wichtig genug für irgendwo eine Erwähnung.

Es hallt mir noch etwas nach, dieses zufällig doch recht gute Sinnbild dafür, wie es ist, auf der Welt zu sein, sich gegenseitig Adventskalender zu basteln und in Geschenken zu ertrinken, beleidigt zu sein, weil man irgendwo nicht genug Anerkennung für etwas bekommt, während wir von Menschen wissen, die in denselben Momenten — zur selben Zeit auf derselben Welt — trauern, weil sie Angehörige durch ein brutales Massaker verloren haben oder weil ihre Zufluchtsorte bombardiert werden. Menschen, die jetzt und in diesem Augenblick in Angst und Not leben, um Luft ringen, einer Kugel entkommen, eine Todesnachricht oder eine schlimme Diagnose bekommen oder auf der Flucht sind und rennen, ausser Atem, während wir uns noch einen Kaffee holen.

Ich denke daran. An alles. Nicht immer, aber es ist nie nicht da. Aber ich weiss nicht was tun, ausser weiterleben, sich des eigenen Glücks bewusst sein und helfen, wo man helfen kann. So klein die Hilfe auch sein mag. Gäbe es ein Lied, ich wär die erste, die es anstimmt. Für die kniende Person auf der Piste. Für die toten Kinder. Die weinenden Mütter. All die trauernden Familien. Und für dich, wenn du es brauchst.

Heile Heile Säge. Und Happy New Year.