Schöne kleine Fehler oder: Wie Schlafmangel dabei hilft, die Welt durch andere Augen zu sehen
The Red Bulletin 05/24

Die Welt ist laut, und es ist viel los. Da kann es schon passieren, dass man nicht immer alles mitbekommt oder Dinge einfach auch mal falsch versteht. Als der Begriff Cancel Culture aufkam, war ich beispielsweise so anderweitig abgelenkt vom Leben, dass ich mir, ohne mich jemals einzulesen, einfach eine Bedeutung zusammenreimte. Als ich irgendwann erfuhr, dass es den kollektiven Ausschluss von Menschen oder Firmen meint, die mutmasslich diskriminierend handeln, ging mir ein beschämtes Lichtlein auf. Hatte ich doch tatsächlich viele Monate lang geglaubt, Cancel Culture bezeichne die sich durch Corona etablierte Unanständigkeit, dass man Verabredungen ohne schlechtes Gewissen auch im letzten Moment noch absagen dürfe..

Wer Schlafmangel kennt, weiss, dass er ziemlich seltsame Symptome mit sich bringt, die von Vergesslichkeit und Panik über geistige Umnachtung bis hin zu vermeintlicher Selbsthilfe durch blinde Kalorienzufuhr reichen können. Oft trifft diese gesellschaftlich noch nicht zur Genüge akzeptierte Belastungsstörung junge Eltern, aber die Gründe für ein Schlafmanko sind mindestens so facettenreich wie die Missverständnisse, die es mit sich bringt. Erdbeertorte und Erdbebentote – just sayin’.

Bei uns daheim hatten solche sprachlichen Missverständnisse immer schon einen eigenen Namen, da mein ägyptischer Vater die Angewohnheit hatte, Sprachen immer nur bis zu dem Punkt zu lernen, bis sie ihm persönlich gut genug erschienen. Viele Dinge behielten deshalb immer die Namen, die er für am schönsten und passendsten befand, auch wenn sie nicht korrekt waren. «Nur weil etwas nicht richtig ist, ist es noch lange nicht falsch», erklärte er seine Hand­habung der Dinge. Und auch nach 20 Jahren in der Schweiz nannte er das Land unbeirrt Suisland und den Franz Carl Weber Carl Frantis Wibb. Pharmacil bezeichnete, auch wenn es so klingt, kein Medika­ment, sondern Vermicelles. Sauce Drelia war nichts für auf trockene Teigwaren, sondern Australien. Seinen liebsten deutschen Fussballer Miroslav Klose taufte er Mister Klaus, Robert De Niro hiess bei ihm Roberto de Janeiro und Angela Merkel klang aus seinem Mund wie ein engelsgleiches Wunder: Angel Miracle. Verbesserungsvorschläge waren nicht erwünscht. Mein Vater war der Ansicht, dass, wenn man ihn verstehen wolle, das mit ein bisschen Willensstärke sicher möglich sei; man müsse halt einfach ein bisschen offen sein für Poesie und flowery wordis.

Nicht alle seiner Wortschöpfungen waren jedoch der­ art blumig. Die Eselsbrücke, um sich den Schweizer Nachnamen Bischofberger zu merken, war für ihn Piss Off, Berger. Und Areschloch mochte für ihn zwar nichts anderes als ein Ausflugsziel in der Nähe von Meiringen meinen, aber Aussenstehenden war das natürlich nicht immer sofort klar – und oft sass ich da und starb neben ihm tausend Tode, bis sich mir jeweils die Möglichkeit bot, seine mal mehr, mal weni­ger flowery wordis aufzulösen. So auch dieses eine Mal in der Confiserie Sprüngli, als ich die zähen Minuten aushalten musste, bis ich der überforderten Angestell­ten endlich erklären konnte, was dieser immer wüten­der werdende Mann meinte, der da so energisch gegen die Patisseriescheibe klopfte und zum dritten Mal das Wort Phar-ma-ciil wiederholte.

Mit dieser Vergangenheit im Rücken glaubte ich lange, nichts würde Missverständnisse so sehr begüns­tigen wie mein Vater, aber dann bekam ich zwei Kin­der, von denen eins satte sechs Jahre lang nicht durch­schlief. Und als dann endlich doch, besorgten wir uns eine Katze (angesichts der insgesamt vielleicht zehn durchgeschlafenen Nächte in den letzten Jahren ist das zugegebenermassen eine nur schwer nachvollziehbare Entscheidung). Wie es das Schicksal so will, erwisch­ten wir eine, die uns am liebsten nachts laut miauend von ihren Abenteuern erzählt und uns viele und nur lebendige Mäuse nach Hause bringt, die wir im Mor­gengrauen mithilfe von zu Wurfgeschossen umfunkti­onierten Löchersieben einfangen müssen. Ungestörter Schlaf bleibt demnach ein rares Gut.

Dafür führe ich inzwischen eine Liste von Dingen, die ich vor lauter Müdigkeit falsch verstanden habe. Darauf findet sich ein Lied, das ich im Fernsehen sah: Mitte März durch die Wand, sang ich fröhlich mit, bis ich am Ende des Songs in der Bauchbinde las, dass es der singenden Person gar nicht um die spezifische Monatsangabe für dieses Vorhaben ging, sondern um das Wie – «mit dem Herz» wollte sie nämlich durch die Wand (das schien mir ein fast noch schwierigeres Unterfangen als das mit dem fixen Datum, aber im Schlager ist einiges möglich). In der Zeitung wurde aus der Headline «Sogwirkung für Terroristen» in mei­ner müden Welt ein fast liebevolles Kursangebot, und ich las Songwriting für Terroristen. Und in einem Kin­derbuch stapelten sich in Grossmutters Küche gemäss meinen Augen statt «Gelierzucker» viele Packungen Geiler Zucker. Es ist noch nicht lange her, dass ich mir vor lauter Schreck heissen Kaffee über meine Jacke goss, als ich mir eine Broschüre zu Weiterbildungs­möglichkeiten durchblätterte und dort statt «Karriere­schritt» Ihr nächster Kaiserschnitt! las. Und doch sehe ich in meinem Schlafmangel auch einen Vorteil.

Natürlich sind Wortschöpfungen und Missverständ­nisse besonders vielschichtig, wenn muttersprachli­che Strukturen auf eine Fremdsprache angewendet werden. Wenn der französischsprechende Postkarten­absender mit Dicker Nordwind unterschreibt und das wie eine Sturmwarnung klingt, bis man merkt, dass es nur falsch ausgesuchte Übersetzungen von «grosses» und «bises» sind. Oder eben: mein Vater, der das Wun­der meiner Geburt anderen gegenüber gern wie folgt beschrieb: For me it was gliich she look like Aff when she was born. Was etwas weniger charmant klingt als die sinngemässe Übersetzung des arabischen Sprichworts, das er zu zitieren meinte: «Selbst für die Mutter des Affen sieht ihr Neugeborenes aus wie das Kind eines Rehs.»

Mein Schlafmanko hat mir aber vor Augen geführt, dass wir alle Sprache verändern. Aussprache, Herkunft und unsere persönlichen Geschichten prägen die Art, wie wir denken, reden und verstehen. Und dank mei­ner langen Liste voller schöner kleiner Fehler wird mir immer wieder bewusst, dass in nur einem überlesenen oder verdrehten Buchstaben der Schlüssel zu einer schönen Geschichte oder Anekdote liegen kann, die man verpasst hätte, wenn man alles nur immer rich­tig gemacht hätte. So gesehen hat nicht nur Ludwig Wittgenstein recht, wenn er sagt «Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.» Sondern eben auch mein Vater, der sagt: «Nur weil etwas nicht richtig ist, ist es noch lange nicht falsch.»